Mai-Märchen: Müllerskind

Mai-Märchen: Müllerskind

Marcel und Eric Schäffler

Das schöne Müllerskind

geister-0034.gif von 123gif.deVor vielen, vielen Jahren stand in einem Waldtal eine alte Mühle. Die Müllersleute, die darin wohnten, waren nicht reich an Hab und Gut, aber sie hatten eine wunderschöne Tochter, die Marlis hieß. Sie war rank und schlank wie eine junge Birke. Die golden schimmernden Flechten hatte sie wie ein Krönlein über dem Kopfe festgesteckt, und ihre Augen waren licht und blau wie Vergißmeinnicht, die den Waldbach umsäumten.
Aber noch größer als ihr Liebreiz war ihre Herzensgüte. „Sie ist wie ein Sonnenstrahl“, sagten die Leute, die sie kannten. Das sagte auch die alte Großmutter, die krank und gebrechlich in der Mühle am Herdfeuer saß und von Marlis gepflegt wurde. Das sagte die Mutter, wenn ihr Marlis fröhlich beim schweren Tagewerk half, und die sorgenvolle Miene des Müllers hellte sich auf, wenn er in das sonnige Gesicht seines Töchterleins schaute. Der Müller hatte nämlich viele Sorgen. Die Mühle war alt und baufällig und brachte nicht viel ein. Da mangelte es oft am täglichen Brot, aber Marlis wußte immer Rat. Sie lief in den Wald hinein, holte Beeren, Pilze, würzige Kräuter, und im Herbst schleppte sie unermüdlich Holz und Tannenzapfen heim. Der Wald war ihr liebster Aufenthalt. Wenn sie so hindurchlief und die Waldvöglein singen hörte, dann hätte sie mit keiner Königin tauschen mögen.
Eines Tages sagte der Müller: „Wenn nicht ein Wunder geschieht, müssen wir aus der Mühle heraus und betteln gehen.“ Als das Marlis hörte, tat ihr das Herz weh, und weil sie alles, was ihr Herz bewegte, dem Wald anvertraute, lief sie noch einmal hinaus. Sie legte sich unter einen Baum und dachte über die Worte des Vaters nach. Die Mühle verlassen zu müssen dünkte ihr schlimmer als der Tod, denn nirgends auf der Welt gab es wohl noch einmal ein so schönes Plätzchen wie das stille Waldtal mit der alten Mühle. Sie überlegte hin und her, aber diesmal wußte sie keinen Rat. Da verbarg sie ihren Kopf in dem grünen Waldmoos und weinte bitterlich.
„Weshalb weinst du denn so, schönes Müllerskind ?“ hörte sie auf einmal eine Stimme fragen. Marlis hob ihren Kopf. Vor ihr stand ein Zwerg und schaute sie traurig an. Sie erschrak. Die Großmutter hatte ihr wohl erzählt, daß in den Höhlen der Berge solche kleinen Männlein hausten, aber sie hatte noch niemals einen gesehen. Weil das Männlein aber ein gutes Gesicht hatte, faßte sie Vertrauen, richtete sich auf und erzählte alles, was ihr Herz bedrückte. Als sie geendet hatte, sagte das Männlein: „Vielleicht kann ich dir helfen, schönes Müllerskind. Ich habe in meiner Höhle ein Stücklein Gold versteckt. Das werde ich unter diese Baumwurzel legen, und morgen um dieselbe Zeit kannst du es dir holen. Du mußt mir aber versprechen, niemandem etwas davon zu sagen, denn wenn es Golo, der Herrscher, erfährt, würde er mich töten.“ Marlis versprach dem Männlein zu schweigen, und dieses erzählte ihm nun, daß Golo ein mächtiger, böser Zwerg sei. Er sei von einer unersättlichen Goldgier besessen, und das arme Zwergenvolk müsse Tag und Nacht für ihn arbeiten. Nach diesen Worten verschwand das Männlein wieder im Walde und Marlis trat wohlgemut den Heimweg an. Unterwegs traf sie Konrad, den jungen Jäger, und sie liefen ein Stücklein miteinander. Die beiden hatten sich gern und Konrad wußte, daß er niemals ein andere Braut heimführen würde als Marlis.
Am nächsten Tage lief Marlis wieder an die verabredete Stelle, und als sie sich bückte, glänzte ihr das Stücklein Gold unter der Baumwurzel entgegen. Freudig wollte sie es gerade in ihrem Mieder verstecken, als eine heisere Stimme fragte: „Was hast du denn da gefunden, schönes Müllerskind ?“ Marlis drehte sich herum. Vor ihr stand ein häßlicher Zwerg. Er war größer als das Männlein von tagszuvor. Marlis erschrak. Sie dachte an die Worte des Männleins und sagte zögernd. „Das hab ich hier gefunden.“ „Was willst du denn mit dem Golde?“, forschte der Zwerg weiter. „Ich will es meinem Vater geben, der ist in großer Not und kann es gut gebrauchen“, antwortete Marlis. „Ha“, lachte der Zwerg, „mit diesem Stücklein Gold kann er nicht viel anfangen. Komm mit mir, ich will dir einen ganzen Beutel voller Goldstücke geben.“ Marlis wollte davonlaufen, aber der Zwerg vertrat ihr den Weg und redete mit schmeichlerischen Worten auf sie ein. Da dachte Marlis an die Sorgen der Eltern und ging mit dem Zwerg bis zu dem Ende des Waldes, wo ein hoher Berg das Tal begrenzte. Hinter Tannengestrüpp war eine große Felsenspalte. In diese zog der Zwerg Marlis an der Hand hinein, und sie mußte ihm durch Höhlen und finstere Gänge folgen. Da standen überall Bergmännlein mit Grubenlichtchen und hämmerten und klopften an dem Gestein herum. Sie drückten sich scheu beiseite, als Marlis mit dem Zwerg vorbeiging. Der aber trieb sie mit harten Worten zur Arbeit an. Weh mir, dachte Marlis, nun bin ich Golo, dem Herrscher, in den Berg hinein gefolgt. In einer Höhle blieb er stehen und beim Schein einer Pechfackel sah Marlis, daß hier ein großer Haufen Goldes lag. Der Zwerg sagte: „Einen Beutel voll diesen Goldes werde ich noch heute deinem Vater vor die Türe legen, aber du mußt bei mir bleiben und meine Gefährtin werden.“ Über Marlis kam ein großer Schrecken und zitternd sagte sie: „Behaltet euer Gold und laßt mich wieder aus dem Berg hinaus.“ Da lachte der Zwerg und sagte, „Hinaus kannst du nicht wieder, aber du sollst es gut haben und das ganze Zwergenvolk wird dir untertan sein.“
Die arme Marlis wollte schreien, aber sie brachte keinen Laut heraus, die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Der Zwerg nahm sie bei der Hand und sagte: „Nun will ich dir meine Felsenburg zeigen. Dort sollst du zunächst allein wohnen, aber nach drei Tagen komme ich und dann wollen wir Hochzeit halten. Da mußt du fein lustig sein, schönes Müllerskind.“ Er zog sie aus der Höhle hinaus und stieg mit ihr eine Felsentreppe hinauf und auf einmal durchschritten sie eine Reihe der herrlichsten Prunkgemächer. Da waren die Fenster von reinem Bergkristall und an den Wänden glänzte goldener und silberner Zierat. „Nun, wie gefällt es dir hier?“ fragte der Zwerg, und er schaute Marlis triumphierend an. Er meinte wohl, das arme Müllerskind müßte beim Anblick dieser Pracht anderen Sinnes werden. Marlis aber brachte kein Wort heraus. Da schob der Zwerg einen Teppich von einer Tür, und der Blick in ein blühendes Felsengärtlein wurde frei. Als das Marlis sah, sprang sie schnell hinaus und lief an dem Rande des Gärtleins entlang. Doch da fielen Felsenwände überall schroff in die Tiefe hinunter und an ein Entfliehen war nicht zu denken. Da ließ sich Marlis auf einem Steinsitz nieder und weinte und weinte. Über ihr sang ein Vöglein im Tannenbaum und als die Tränen so garnicht versiegen wollten, sang das Vöglein: „Schönes Müllerskind, wein´ dir doch nicht die Äuglein blind.“ Aber Marlis hörte es nicht. Da hüpfte das Vöglein auf einen der unteren Zweige und sang es noch einmal. Jetzt horchte Marlis auf, und als sie das Vöglein so nahe über sich erblickte, streckte sie ihm beide Hände entgegen. „Liebes Vöglein,“ sagte sie, „nur du kannst mein Bote sein. Fliege in die Waldmühle und erzähle meinen Eltern wo ich bin.“ Da nickte das Vöglein ein paarmal mit dem Köpfchen und flog davon. Marlis fühlte sich nun etwas beruhigt, denn sie meinte, die Eltern würden nach ihr suchen und die Großmutter würde immerfort für sie beten. Scheu blickte sie nach der Türe, durch welche sie in das Gärtlein gelangt war. Sie bildete den Eingang zu einer Burg, die aus dem Felsen herausgehauen war, aber nichts regte sich dort und auch im Gärtlein war nichts mehr von dem häßlichen Zwerg zu sehen.
Aus Busch und Strauch aber huschten Elflein heraus, sie hatten den Arm voller Blumen, Maßliebchen und Vergißmeinnicht, Aurickeln und Anemonen. Sie breiteten die Blumen wie einen Teppich zu Marlis‘ Füßen aus und ein Elflein sagte: „Golo, der Herrscher, schickt uns. Wir sollen dir die Zeit vertreiben.“ Dann tanzten sie singend über den Blumenteppich. So leichtfüßig und hold, wie eben nur Elflein tanzen können, und ihr Gesang klang lieblich wie junges Vogelgezwitscher und Bienchengesumm.
Doch Marlis konnte sich nicht daran erfreuen und ihre Augen füllten sich immer wieder mit Tränen. Da hörten die Elflein mit ihrem Tanz auf und ließen sich traurig zu Marlis‘ Füßen nieder. Sie duckten ihre Köpfchen und sahen nun selbst wie schlummernde Blümchen aus in ihren bunten Kleidchen. Marlis wagte sich aber nicht von dem Steinsitz zu erheben. Als es dunkelte, kam ein Zwerg mit einer Laterne. Marlis erkannte in ihm das Männchen, mit welchem sie gestern im Walde gesprochen hatte. Es sagte. „Golo, der Herrscher, schickt mich, ich soll dich in dein Schlafgemach geleiten“, und flüsternd setzte es hinzu: „Verzage nicht, schönes Müllerskind, morgen werde ich im Walde den Jäger aufsuchen und ihm erzählen, wo du dich befindest.“ Marlis dankte dem Männlein und bat, er möchte sie doch hier draußen lassen. In der Felsenburg würde sie sich zu Tode fürchten. „Dann werde ich hier bei dir wachen,“ sagte das Männlein. Eine große Ruhe kam über Marlis. Inmitten der schlummernden Elflein, bewacht von dem kleinen Zwerg, schloss sie ihre müden, verweinten Augen und schlief ein.
Das Waldvöglein war mit Marlis‘ Botschaft schnell zur Waldmühle geflogen. Es war aber niemand daheim, denn die Müllersleute suchten im Walde nach ihrem verschwundenen Kinde. Nur die alte Großmutter saß in der Küche und betete laut vor sich hin, so konnte sie nicht hören, was das Vöglein sang. Da flog es auf einen Baum und wartete. Im Morgengrauen kehrten die Müllersleute heim, sie hatten die ganze Nacht mit Konrad vergeblich nach Marlis Ausschau gehalten. Nun suchten sie müde und traurig ihre Kammer auf. Da flog das Vöglein an das offene Kammerfenster und sang:

„Tief innen im Berg,
hütet ein mächtiger Zwerg
Marlis, euer Kind.
Das weint sich nun schier die Äuglein blind.“

„Sing es noch einmal“, bat die Müllerin. Da sang es das Vöglein noch einmal und noch einmal.
Als der Müller in der Frühe die Tür zur Mühle öffnete, lag ein Beutel mit Gold auf der  Schwelle. Er zeigte ihn seiner Frau und sagte: „Wir werden von diesem Golde nichts anrühren, bevor unsere Marlis nicht zurückgekehrt ist.“ Gleich darauf kam Konrad, der Jäger. Als er von der Botschaft des Vögleins hörte, lief er noch einmal zurück bis zum Ende des Waldtales. Aber beim Anblick des hohen Berges wurde er mutlos. Wo mochte sich die arme Marlis befinden? Da hörte er seinen Namen rufen und er sah einen Zwerg aus einer Felsenspalte hervorgucken, der winkte ihm heftig zu. Konrad lief hin, und das Männlein sagte: „Ich bringe dir Botschaft von Marlis, dem schönen Müllerskind. Golo, der Herrscher, hat sie in den Berg gelockt, er hält sie oben in seinem Felsengärtlein gefangen und übermorgen will er Hochzeit mit ihr halten.“ Da fuhr Konrad auf: „Führe mich schnell zu ihr“ rief er und wollte in die Felsenspalte eindringen. Doch das Männlein verwehrte ihm den Eingang und warnte: „Du würdest nicht lebend wieder aus diesem Berge herauskommen, denn Golo tötet jeden, der in diesen Berg eindringt. Aber merke gut auf, ich will dir etwas anderes verraten. Golo verwandelt sich oft in einen Raben und fliegt in den Wald, um dort die Tiere zu belauschen. Wenn ihn dein Pfeil treffen könnte, wären wir Zwerge alle erlöst und mit uns das schöne Müllerskind“. Das Männlein verschwand nach diesen Worten im Inneren der Felsenspalte. Konrad aber setzte sich auf einen Stein, spannte seinen Bogen fester und hielt einen Pfeil bereit. Doch er mußte lange warten. Die Sonne stand schon sehr hoch, da sah er endlich, wie ein Rabe mit heiserem Gekrächze vom Berg aufflog. Er schoß seinen Pfeil ab, und der Rabe stürzte getroffen zu Boden. Als aber Konrad zu der Stelle hin eilte, sah er einen sterbenden Zwerg auf der Erde liegen. Der Tod hatte Golo seine richtige Gestalt wieder gegeben. Im gleichen Augenblick aber hörte man ein Krachen und Donnern im Berg. Es klang, als wenn Gestein zusammenstürzte. Nach kurzer Zeit kamen auch schon die Männlein von allen Seiten angelaufen. „Die Felsenburg ist eingestürzt,“ schrien die einen, „und hat die Goldhöhle unter sich begraben.“ „Nun wird uns Golo noch mehr peinigen,“ riefen die anderen. Doch ihr Klagen verwandelte sich in helle Freude, als sie Golo tot am Waldboden liegen sahen. Da konnte sich Konrad nicht genug über die putzigen Männlein wundern, die einander umarmten und Purzelbäume schlugen und es nicht fassen konnten, daß sie nun endlich frei waren. Konrad aber winkte das Männlein heran, welches ihm die Botschaft von Marlis überbracht hatte. „Führe mich nun schnell zu Marlis“ bat er. Da führte ihn das Männlein auf geheimen Pfaden hinauf in das Felsengärtlein. Das war noch unversehrt und Marlis saß ängstlich auf dem Steinsitz. Sie hatte gehört, wie die Felsenburg zusammenstürzte. Als sie nun Konrad erblickte, flog sie auf ihn zu und weinte in seinem Arm alle ausgestandene Angst aus. Der Jäger legte seinen Arm um ihre Schultern und unter Führung des Männleins stiegen sie wieder in den Wald hinab.
Die Freude war groß, als sie in der Mühle ankamen und die Müllersleute dankten Konrad immer und immer wieder für die Errettung ihres Kindes.
Von nun an kamen gute Zeiten für die Mühle. Denn der Müller ließ die Goldstücke aus dem Beutel springen. Alles, was alt und baufällig war, wurde neu hergerichtet und nach kurzer Zeit klapperte die Mühle wieder lustig bei Tag und bei Nacht. Zwei stattliche Esel schleppten das Mahlgut hin und her, und weil der Müller und die Müllerin die Arbeit nicht mehr allein schaffen konnten, kamen ein Knecht und eine Magd in das Haus. Da herrschte nun ein fröhliches Leben auf dem einst so öden Mühlenhof. Darüber hatten alle ihre Freude, auch die alte Großmutter. Die saß nicht mehr am Herdfeuer, sondern unten an der Mühle und neben ihr Marlis. Von den Männlein hörte und sah man nichts mehr. Sie hatten sich wohl auf die andere Seite des Berges zurückgezogen. Als aber ein Jahr danach Marlis mit dem Jäger Hochzeit hielt, da kamen sie an mit Pfeifen und Flöten und schleppten selbstgefertigten Hausrat für Marlis mit. Es wurde nun eine fröhliche Hochzeit auf der Wiese vor der Mühle gefeiert. Der Müller knauserte nicht und ließ hinausbringen, was in Küche und Keller vorrätig war. Die Männlein zechten und lärmten und priesen Konrad immer wieder als ihren Erretter. Die schöne Braut aber mußte sich mit jedem einmal im Tänzlein drehen. Erst als die Sonne hinter dem Berge verschwunden war, brachen die Männlein auf. Sie zündeten ihre Laternchen an und zogen mit vielen Dankesworten von dannen. Konrad und Marlis aber schauten ihnen nach, bis das letzte Lichtlein im Walde verschwunden war, und beide gedachten noch einmal der angstvollen Stunden, die Marlis oben im Berg und im Felsengärtlein zugebracht hatte.
Überarbeitet von Monika Friedmann

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