25.10.13-02.02.14 Lorna Simpson, Haus der Kunst
Die erste europäische Museumsretrospektive der von der Kritik gefeierten amerikanischen Künstlerin Lorna Simpson (geb. 1960 in Brooklyn, New York) umfasst dreißig Jahre ihres Schaffens und demonstriert die Kontinuität ihres konzeptuellen und performativen Ansatzes in Fotografie, Film, Zeichnung und Collage. Mit der Kamera als Katalysator konstruiert Simpson Montagen aus Text und Bild und vereint Teile zu Ganzheiten, wobei sie die dokumentarische Qualität gefundener oder inszenierter Bilder zur Diskussion stellt. Ihre Arbeit geht kritisch auf die Genres Fotografie und Film ein und stellt Fragen nach Identität und Erinnerung, Gender und Geschichte, Fakt und Fiktion.
Lorna Simpson studierte Kunst an der University of California in San Diego und Fotografie an der School of Visual Arts in New York. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit Fototext-Arbeiten wie „Waterbearer“ (1986). Diese Fotografie zeigt eine Frau von hinten, die in der linken Hand einen eleganten Edelstahl-Krug und in der rechten eine Plastikflasche hält – „um einen Mangel an Überfluss anzudeuten“, wie Simpson es formuliert hat. Das Bild kann als Abstraktion des klassischen Motivs der Justitia mit der Waage gelesen werden. Das weiße Hemdkleid, das die Frau trägt, kommt auch in vielen anderen Arbeiten vor. Laut Simpson funktioniert dieses Kleidungsstück der Jahrhundertwende als Uniform: Es ist zeitlos und unterstreicht das Feminine. (Abbildung: Lorna Simpson, Waterbearer, 1986, Gelatin silver print, vinyl lettering, 59 x 80 x 2 ½ in overall, Silbergelatine Abzug, Vinylbuchstaben, 149,9, x 203,2, x 5,7 cm insgesamt Courtesy the artist; Salon 94, New York; and Galerie Nathalie Obadia, Paris / Brussels © Lorna Simpson)
Jahrelang hat Simpson mit großer Radikalität Figuren gezeigt, die einem den Rücken zuwenden und sich weigern, ihr Gesicht zu zeigen. Indem sie ihre Modelle von hinten fotografiert, unterläuft Simpson die Erwartungen des Betrachters: Man sieht nicht den Gesichtsausdruck, der etwas über die Person und ihre emotionale Verfassung verraten könnte, man sieht nicht, wer sie ist, wie sie aussieht – der ganze Prozess des Entzifferns und Bewertens wird verhindert. Stattdessen wenden sich Simpsons Figuren sich selbst zu und messen sich selbst Bedeutung bei. Neben einem historischen Subtext, der auf die Politik der Sklaverei hindeutet, in der ein massives Machtgefälle dem Versklavten sogar das Recht auf den eigenen Blick absprach, kann dieses Zu-sich-selbst-Schauen auch in einem Foucault’schen Sinne interpretiert werden: „Seinen Blick auf das Selbst zu richten, bedeutet zunächst, ihn von anderen abzuwenden. Und dann, später, bedeutet es, ihn von den Dingen der Welt abzuwenden.“ (Michel Foucault)
In ihrer Arbeit „Twenty Questions (A Sampler)“ von 1986 nimmt Lorna Simpson Bezug auf das Gesellschaftsspiel, bei dem ein Spieler an eine Person denkt, welche die Mitspieler dann mittels Fragen zu identifizieren versuchen. Simpsons Stichprobe enthält nur fünf Fragen, zu denen jeweils ein Bild derselben Frau von hinten gehört: „Is she pretty as a picture / Or clear as crystal / Or pure as a lily / Or black as coal / Or sharp as a razor.“ („Ist sie bildhübsch / oder kristallklar / oder lilienrein /oder kohlschwarz / oder rasiermesserscharf.“) Diese Fragen sind ganz offensichtlich untauglich, um die Identität der Frau zu erraten. Simpson hat dazu gesagt, dass sie versuche, „sehr komplexe Charaktere zu schaffen, die außerhalb der Stereotypen von Zeit, Ort, Identität, Sexualität und Rasse existieren“. Alleinstehend, könnten ihre Textkomponenten als Prosagedichte, als kürzeste Kurzgeschichten, oder als Drehbuchexzerpte gelten. Text und Bild sind jedoch gleich gewichtet und inspirieren sich gegenseitig. Eine ebenso fragile wie kraftvolle Dynamik schließt beide Komponenten zu einem Ganzen zusammen.
Für „The Institute“ (2007) hat Simpson zum ersten Mal bei eBay entdecktes Filmmaterial verwendet. Es war ursprünglich für einen Werbefilm für ein Institut für Logopädie gedacht. Einer jungen schwarzen Frau namens Barbara werden Fragen gestellt, um sie zum Sprechen zu bewegen. Die Fragen sind herausfordernd und haben eine traurige Wirkung, weil Barbara nicht in der Lage ist, klar zu antworten.
Auch „1957-2009“ basiert auf einem Internet-Fund: Fotos, die zwischen Juni und August 1957 in Los Angeles aufgenommen wurden und eine Frau zeigen, die vor der Kamera posiert, als ob sie eine Schauspielkarriere anstrebt. „Es war faszinierend“, sagte Simpson. „Eine Afroamerikanerin in Los Angeles in den späten 50er-Jahren, die sich mit einer solchen Ausdauer und mit solcher Energie drei Monate lang diesem Projekt widmet.“ Um den Auftritt vor der Kamera, die Posen und Kunstgriffe noch zu verdeutlichen, beschloss Simpson, die fotografierte Frau nachzuahmen: Es war das erste Mal, dass die Künstlerin für ihre inszenierten Replikate selbst vor die Kamera trat. Sie wählte eine ähnliche Umgebung und imitierte Frisur, Ausdruck, Körpersprache und Mimik („Lächeln und gleichzeitig Nicht-Lächeln“) der Frau aus den 50er-Jahren: ein technisch anspruchsvoller Prozess. Simpsons Interaktion mit den historischen Bildern führte dann dazu, dass sie auch die Rolle des männlichen Gefährten der Frau spielte, dessen Bild sich ebenfalls unter den Fotos aus dem Internet fand.
Auf demselben Fotoalbum von 1957 basiert auch „Chess“ (2013), eine weitere Untersuchung des Rollenspiels. Für diese eigens für die Ausstellung entstandene Arbeit bearbeitete Simpson Fotos, auf denen die Frau und der Mann miteinander Schach spielen. „Chess“ ist eine Projektion auf drei Leinwänden. Auf einer Leinwand ist der Mann zu sehen, auf der zweiten die Frau; die Künstlerin spielt beide Rollen und erweckt so das Schachspiel zum Leben. Auf der dritten Leinwand wird der Komponist Jason Moran gezeigt, der den Soundtrack für diese Arbeit einspielt; der Film basiert auf einer Spiegelung seiner Handbewegungen. Simpson hat diese prismatischen Bilder mit Hilfe eines fünffachen Spiegels aufgenommen. Diese Technik ist von einer Fotografie vom Anfang des 20. Jahrhunderts inspiriert, die Simpson in einer Ausstellung im Museum of Modern Art in New York gesehen hatte.
„The Institute“ regte Lorna Simpson auch dazu an, in einem neuen Medium zu arbeiten: 2007 begann sie zu zeichnen. Mit der Serie „Gold Headed“ würdigt die Ausstellung auch diesen, wahrscheinlich am wenigsten bekannten Teil ihrer Arbeit.
Die Austellung wurde von der Foundation for the Exhibition of Photography, Minneapolis, und Jeu de Paume, Paris, in Zusammenarbeit mit dem Haus der Kunst, München, organisiert.
Besonderer Dank gilt Melva Bucksbaum und Raymond Learsy, Salon 94, New York, und Galerie Nathalie Obadia, Paris/Brüssel, für die zusätzliche Unterstützung.
Der Katalog ist bei Delmonico Books / Prestel erschienen. Herausgeberin ist Joan Simon, die Texte stammen von Naomi Beckwith, Marta Gili, Thomas J. Lax und Elvan Zabunyan. 216 Seiten, 49,95 Euro, ISBN 978-3-7913-5266-4.
Programm plus
Sonntag, 27. Oktober 2013, 19 Uhr
Klavierkonzert mit Jason Moran
anschließend Gespräch mit Lorna Simpson und Jason Moran, moderiert von Okwui Enwezor
Konzertticket inkl. Ausstellungsbesuch 25 Euro
Freie Platzwahl. Tickets unter http://www.hausderkunst.de/ und an der Kasse Haus der Kunst
Pressekontakt: Dr. Elena Heitsch