Der heilige Hieronymus

Der heilige Hieronymus

Ein Löwe sich begeben muß

zum Heiligen Hieronymus.

In seiner Tatze ganz rechts vorn

steckt ein langer dicker Dorn.

Der Heilige Hieronymus

 

Hieronymus saß im Gehäus

und dachte sich: „Was gibt es Neu’s ?“

Da brüllte es des nachts um Vier

Ein Löwe stand vor seiner Tür.

 

„Was willst Du ?“ sprach gleich voll Verdruß

zum Raubtier der Hieronymus.

„ich übersetze schwitzend grad

die Bibel hier, höchst akkurat,

die, wie man sie auch immer dreht,

im Abendland kein Mensch versteht,

weil sie teils griechisch abgefaßt,

was den Lateinern gar nicht paßt,

teils, wie Du weißt auf aramäisch,

was leider außereuropäisch.

Mein Kopf, der dröhnt mir, wie Du hörst,

also verschwinde, – denn Du störst !“

 

Da sprach der Löwe: „Ach, verzeih,

ich stör zwar Deine Schreiberei,

es klingt wahrscheinlich ganz abstrus,

doch – ich hab einen Dorn im Fuß.

Der tut mir ganz entsetzlich weh,

auch wenn ich in die Kirche geh.

 

Ich war beim Hausarzt schon heut Nacht,

doch der hat mir nicht aufgemacht.

Ich weiß von vielen kranken Schafen,

daß Mediziner oft fest schlafen.

 

Drum eilte ich ins Krankenhaus,

auch dort warf man mich gleich hinaus

und hat mich damit abgetan,

ich sei als Löwe „nicht human“,

und hätte ferner obendrein

nicht mal ‘nen Überweisungsschein.“

 

Hieronymus, vor der Vulgata,

erschien der Löwe desolat da

und dachte für sich: „Groll,was hegst’n ?

Es heißt doch: Liebe Deinen Nächsten“,

erinnerte sich deutlich wieder

ans Gleichnis mit dem Samariter

und Jesus, der den Lahmen heilte,

woran er übersetzend feilte.

 

So rieb er sich nervös die Glatze

und sagte: „Zeig mir mal die Tatze.“

Tatsächlich steckte ganz rechts vorn

im großen Zeh ein langer Dorn.

 

Hieronymus der pinselte,

dieweil der Löwe winselte,

die Tatze rundherum mit Jod,

entfernte daraus dann devot

den Dorn mit sehr geschickter Hand,

und machte einen Notverband.

Hieronymus im Gehäus (=Studierzimmer), Kupferstich von Albrecht Dürer (1514). Der von der Decke hängende Kürbis erinnert an die Auseinandersetzung zwischen Hieronymus und Augustinus, welche Pflanze in Jona 4,6–10 LUT gemeint ist[80]

Er impfte ihm den Schwanz zum Schluß

gegen Mumps und Tetanus.

Dann sprach zum Löwen er gelassen:

„Du bist hiermit geheilt entlassen !“

Der Löwe schüttelte den Pelz

und jauchzte glücklich: „Gott vergelt’s !“

 

Der Kirchenvater hat geschnauft,

den Löwen aber noch getauft.

Der hat fortan nie mehr getötet,

sondern gefastet und gebetet.

Worauf Du nie gekommen wärste:

Er hieß fortan „Leo der Erste.“

 

Der Löwe, weil geheilt die Füß er,

schenkte Hieronymus, dem Büßer,

aus Dankbarkeit und ganz spontan

ein kleines Sträußchen Löwenzahn.

Winfried Rathke

KUNST UND MYTHOS
 

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