Buch: ARMUT… betrifft uns alle!

Buch: ARMUT… betrifft uns alle!

2010 LIT-Verlag
Hans-Gert Braun

ARMUT 

ÜBERWINDEN

durch Soziale Marktwirtschaft und Mittlere Technologie. Ein Strategieentwurf für Entwicklungsländer. Reihe: Wirtschaft: Forschung und Wissenschaft, Bd. 31, 2010, 304 S., 39.90 €, geb., ISBN 978-3-643-10947-7
Am 20.07.11, 17h stellte der Autor in den Räumlichkeiten der DEG sein Buch der Presse vor. Hans-Jürgen Beerfeltz, Staatssekretär des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) kommentierte das wichtige Buch aus Sicht seines Hauses. (Pressekontakt DEG: Anja Strautz)
Die Überwindung der Armut in Entwicklungsländern gehört zu den großen Weltproblemen. Prof. Dr. Hans-Gert Braun, ehemaliger Leiter der Entwicklungsländerforschung des ifo-Instituts in München und über 20 Jahre lang Chefvolkswirt der DEG – Deutsche Investitions und Entwicklungsgesellschaft mbH in Köln, vertritt in seinem neuen Buch die These: Armutsüberwindung durch Beschäftigung. Dabei setzt er auf die Realisierung einer Sozialen Marktwirtschaft, eine integre Verwaltung und die Beschränkung auf Mittlere Technologien. Der Entwicklungszusammenarbeit kommt in seinem Strategieentwurf lediglich eine ergänzende Funktion zu.
Buchbesprechung: Das Buch unternimmt den mutigen Versuch, ein Gesamtkonzept für die Armutsüberwindung in ärmeren Entwicklungsländern zu entwerfen; und es präsentiert den radikalen Reformvorschlag für eine neue Form von Entwicklungshilfe. In Teil 1 wird eine nationale Strategie entwickelt, in Teil 2 wird deren Umsetzung durch nationale Entwicklungspolitik dargelegt und in Teil 3 geht es um die Entwicklungshilfe.
Ausgangspunkt in Teil 1 ist der Gedanke, dass Armut nur zu überwinden ist, wenn Arme Arbeit bekommen – und eine menschenwürdige Entlohnung. Hans-Gert Braun fordert dazu einen „Primat der Beschäftigung“ statt des bisherigen „Primats des Wachstums“. Dazu ist ein Technologiewechsel notwendig – hin zur Verwendung einer Mittleren Technologie, die der nationalen Ausstattung mit Kapital entspricht. Dann müssen die modernen Sektoren armer Länder weniger kapitalintensiv produzieren und die traditionellen Sektoren kapitalintensiver – mit der Folge deutlicher Produktivitätssteigerungen bei Letzteren.
Zentraler Akteur muss ein handlungsfähiger Staat sein, der über Einnahmen verfügt und über Integrität. Der Hebel für den Technologiewechsel ist das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, das, so betont der Verfasser, in keinem Entwicklungsland hinreichend installiert ist. (Das Gerede vom Versagen der Marktwirtschaft in Entwicklungsländern ist falsch.) Dabei geht es um die konstituierenden Elemente Geldwertstabilität, Wettbewerb, Preisfreiheit, Konsumfreiheit, Gewerbefreiheit, Eigentumsrechte und Soziale Sicherung. Von ihnen gehen durchschlagende soziale Wirkungen aus; sie sind ein hochwirksames Instrumentarium der Armutsüberwindung.
Das zeigt sich (in Teil 2) an ihren Auswirkungen in den vier zentralen Sektoren, die die angestrebte Vollbeschäftigung realisieren sollen: Der Infrastruktursektor hat dabei eine überragende Funktion: Eine Verbesserung der sozialen Infrastruktur bedeutet bessere Versorgung (Wasser, Strom etc.), Beseitigung von „öffentlicher Armut“. Eine Verbesserung der wirtschaftlichen Infrastruktur trägt zur Dynamisierung der traditionellen Sektoren bei und schafft so indirekt Arbeitsplätze. Alle Maßnahmen im Bereich der materiellen Infrastruktur schaffen Arbeitsplätze – und zwar um so mehr, je stärker dabei Mittlere Technologien eingesetzt werden. Der Engpass der Finanzierung ist überwindbar. Das Buch zeigt, wie die Staatseinnahmen gesteigert werden können; es zeigt aber vor allem, dass der Versuch der Erhebung von Steuern im Subsistenzsektor auf einem Denkfehler basiert. Denn dieser operiert fast ohne Geld. Die angemessene „Besteuerung“ dort sind (wie früher in Europa) die „Hand- und Spanndienste“, die in Beschäftigungsprogramme integriert werden können. Und das gilt analog für Arbeitslose.
Die Vernachlässigung und Diskriminierung der Landwirtschaft und des ländlichen Raumes mit der Folge von Landflucht und Rückentwicklung der Produktion zur Subsistenzwirtschaft müssen und können gestoppt und umgekehrt werden. Angemessene Erzeugerpreise sind der Schlüssel – verbunden mit der Gewährung von Eigentumsrechten, Landreformen, Verbesserungen der Infrastruktur und der Finanzierung etc. Dabei ist wiederum entscheidend, dass auch die Landwirtschaft nur Mittlere Technologien einsetzt, die Arbeitsplätze schaffen und nicht ersetzen. Eine Anhebung der Erzeugerpreise verlangt aber, dass die Städter diese auch bezahlen können.
Deshalb ist eine Dynamisierung des traditionellen gewerblichen Sektors erforderlich. Grundvoraussetzung dafür ist dessen Formalisierung, d. h. die Gewährung von Eigentumsrechten und die Etablierung wirklicher Gewerbefreiheit. Die Registrierung eines Kleinbetriebes sollte (wie in Hongkong) nicht länger als 2 Tage dauern, bei geringen Kosten. Die Formalisierung bewirkt Dynamisierung, indem das „tote Kapital“ belebt wird, indem es für Hypotheken zugänglich gemacht wird. Sie ermöglicht somit die Finanzierung und den Einsatz Mittlerer Technologien und damit die nötigen Produktivitäts- und Einkommenssteigerungen und bietet so die Möglichkeit der Schaffung vieler Arbeitsplätze. Gleiches bewirkt eine Verbesserung der Infrastruktur.
Eine zentrale Rolle spielt dabei der Finanzsektor. Er muss nicht sehr diversifiziert sein, aber er muss alle denkbaren Kunden mit einfachen „Produkten“ erreichen, Sparer wie Investoren. Das gilt in sektoraler, sozialer und regionaler Hinsicht. Nur dann kann er seine Intermediationsfunktion, die Vermittlung zwischen Sparen und Investieren, erfüllen. Zentrale Erfolgsbedingungen sind marktgerechte Zinsen, die der Knappheit des Kapitals entsprechen. Sie verhindern die Vergeudung von Kapital und sie garantieren, dass in Mittlere Technologien investiert wird. Sie sind aber zugleich ein Anreiz, Ersparnisse zu bilden und bei Banken zu deponieren. Mikrofinanzinstitute können ein Baustein des Finanzsektors, aber kein Ersatz für die Finanzsektorentwicklung sein, wenn es um Armutsüberwindung geht.
Die Technologiepolitik, die als Schlüssel für den Erfolg der skizzierten Strategie bezeichnet wird, basiert auf der Durchsetzung marktgerechter Preise. Wenn Geldkapital teurer wird (Zinsen) und Realkapitalimporte kapitalintensiver Technologien sich drastisch verteuern (Wechselkurskorrekturen), ergeben sich massive Anreize in Richtung Mittlerer Technologien. Im öffentlichen Sektor, wo der Staat Herr des Geschäfts ist, kann er arbeitsintensive Mittlere Technologien durchsetzen; das gilt für alle Infrastrukturmaßnahmen. Und das gilt auch für einen großen Teil der Infrastrukturmaßnahmen, die von ausländischer Finanzieller Zusammenarbeit (FZ) finanziert werden. In der Vergangenheit hat die internationale FZ sehr oft die Einfuhr kapitalintensiver Technologie finanziert.
Lange Zeit hat man geglaubt, die Entwicklungsländer verfügten über kein Geldkapital. Deshalb hat man vier Dekaden lang massive Kapitaltransfers (FZ) dorthin betrieben, und immer noch gibt es viele, die eine weitere Steigerung dieser Transfers fordern. Es gibt aber zunehmend Leute, in Afrika und anderswo, die vor diesen Kapitaltransfers warnen. In diesem Buch wird gezeigt, dass die Entwicklungsländer im Prinzip keine Kapitaltransfers in Form von FZ benötigen, wenn sie aufhören, ihr verfügbares Kapital zu vergeuden. Das Buch zeigt die Möglichkeiten in den Bereichen des Steuersystems (als Sparmechanismus), der direkten staatlichen Kapitalbildung (als Substitut), der Sozialversicherung, der Heimatüberweisungen, der Kapitalflucht, im Bereich übermäßigen Staatskonsums, bei der besseren Nutzung natürlicher Ressourcen und bei der Belebung des „toten Kapitals der Armen“. Dabei zeigt sich, dass diese Quellen ein Vielfaches der internationalen FZ ergäben, wenn man sie nur zum Fließen brächte.
Der im Buch weitgehend ausgeblendete moderne Industriesektor soll keine bewusste staatliche Förderung erfahren, obwohl er natürlich von der Durchsetzung der konstituierenden Elemente einer Sozialen Marktwirtschaft, der Entwicklung der Infrastruktur und des Finanzsektors massiv profitiert. Eine Förderung kann auch darin gesehen werden, dass das Instrument ausländischer Direktinvestitionen verstärkt genutzt wird. Das Buch zeigt die positiven entwicklungspolitischen Wirkungen dieser Kooperationen und es zeigt die Möglichkeiten ihrer Förderung im Rahmen der erweiterten Entwicklungszusammenarbeit (EZ), die in der Vergangenheit vernachlässigt wurden.
Der Verfasser leistet in Teil 3 zunächst eine Analyse der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) und deckt eine Reihe von Webfehlern auf, vor allem der FZ, die für zahlreiche Fehlentwicklungen, für die ausufernde Korruption und für die regelmäßigen Verschuldungskrisen verantwortlich waren. Er zeigt, welche Verbesserungen von den Poverty Reduction Strategies ausgehen, aber auch, welche Mängel bleiben. Und er erläutert, warum das neue amerikanische EZ-Konzept des Millenium Challenge Account der EZ nach DAC-Regeln überlegen ist.
Die Analyse der EZ der Vergangenheit mündet in die Konzipierung einer neuen EZ.
Die künftige EZ soll, so Braun, dem „Primat der Beschäftigung“ entsprechen und sie soll die Fehler der alten EZ vermeiden. Der Verfasser zeigt, dass „gute Regierungsführung“ unabdingbar ist und wie sie durchzusetzen ist. Gute Regierungsführung soll zur Bringschuld werden, ihre Honorierung nur noch ex post erfolgen. Das heilsame Institut des Wettbewerbs muss zum Tragen kommen – sowohl zwischen Nehmerländern von EZ als auch innerhalb dieser Länder (zwischen Zentralstaat, Provinzen, Städten, Kommunen und NROs).
Der Verfasser empfiehlt eine Aufkündigung der ODA-Richtlinien des DAC (der OECD), um Kreativität bei der EZ-Vergabe zu ermöglichen und einen sparsameren Umgang mit den EZ-Mitteln. Der Schwerpunkt der EZ soll nicht mehr der Ressourcentransfer sein, sondern die Hilfe bei der Mobilisierung lokalen Kapitals, die „Hilfe vor der Hilfe“. Große Bedeutung muss der Politikdialog haben, um auf gute Regierungsführung und die Wahl der richtigen nationalen Entwicklungsstrategie hinzuwirken. Auch die Technische Zusammenarbeit (TZ) muss sich auf hochrangige Strategie- und Politikberatung sowie auf Capacity Development auf hoher Ebene konzentrieren – statt auf die Durchführung von Projekten auf den unteren Ebenen. Als neuer Zweig von TZ werden Städtepartnerschaften (mit umfangreichen Aufgaben) empfohlen.
Die FZ soll nach den Auffassungen des Verfassers so konzipiert werden, dass die Schwächen der Vergabepraxis der Vergangenheit überwunden werden können. Bei seinem Konzept macht er ausdrücklich Anleihen beim früheren Marshallplankonzept. Sein Vorschlag umfasst zwei Schienen: eine Warenhilfe (Regierungsbedarf, Sicherheitstechnologie für die Infrastruktur und Mittlere Technologie für die mittelständische Wirtschaft und Infrastruktur). Die Waren sind von Regierung und Wirtschaft im Empfängerland zu bezahlen, die Gegenwertmittel in lokaler Währung kommen in einen Gegenwertmittelfonds (analog dem ERP-Fonds in Deutschland) und dienen der revolvierenden Finanzierung der mittelständischen Wirtschaft (Gewerbe und Landwirtschaft) bzw. der Refinanzierung von Finanzinstituten, die auf diese Sektoren ausgerichtet sind.
Die zweite Schiene bildet ein Infrastrukturfonds. Er wird gespeist durch direkte FZ-Zuwendungen, wobei die Euro-Transfers in lokale Währung (durch die Zentralbank) umgewechselt werden. Der Fonds finanziert dann in lokaler Währung infrastrukturelle Projekte, d. h. Projekte direkter Armutsbekämpfung. Um die Mittel konkurrieren Provinzregierungen, Kommunen, Städte und NROs. Dabei geht es grundsätzlich nicht um neue Projekte; vielmehr muss jeder Antragsteller zeigen, dass er ein Projekt der Armutsbekämpfung mit Eigeninitiative und -mitteln erfolgreich realisiert hat und dass er das Projekt nun ausdehnen oder multiplizieren will. Auch hier geht es um die Honorierung von „good governance“ ex post – und auch um die Durchsetzung von Partizipation und Ownership, um den Einsatz Mittlerer Technologie etc. Aber es geht dann in jedem Nehmerland um die gleichzeitige Realisierung hunderter Projekte direkter Armutsbekämpfung. (PTM)

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