11.10.13-6.1.14 Richard Artschwager!

11.10.13-6.1.14 Richard Artschwager!

Artschwager11.10.13-6.1.14 Richard Artschwager! Haus der Kunst
Seit Richard Artschwagers Werk Mitte der 1960er-Jahre in kurzer Abfolge zunächst in den USA und dann in Deutschland in der Kunstwelt bekannt wurde, hat dessen Bedeutung für die Gegenwartskunst weltweit Anerkennung erfahren. Umso bemerkenswerter ist es, dass die vom Whitney Museum in New York organisierte Retrospektive die erste umfassende Präsentation seit der von Richard Armstrong 1988 an gleichem Ort ausgerichteten Ausstellung ist. Ihr Konzept ist darauf ausgerichtet, das Verständnis von Artschwagers experimenteller Erkundung der gängigen Medien von Malerei, Skulptur, Zeichnung und Grafik zu vertiefen.
Die Werkauswahl wird erstmals seine ehrgeizigen Ansätze und Methoden, die sich jeder Einordnung in kunsthistorische Raster entziehen, gleichrangig gewichten. Vor dem Hintergrund von Wahrnehmungsbedingungen, die durch die nivellierende Sichtweise fotografischer Reproduktion verändert sind, beschreibt sie Artschwagers unablässige Befragung der Kunst als Bild und Objekt. (Abbildung: Richard Artschwager, Description of Table, 1964, Melamine laminate on plywood, 26 1/8 x 31 7/8 x 31 7/8 in. (66.4 x 81 x 81 cm), Whitney Museum of American Art, New York; gift of the Howard and Jean Lipman Foundation, Inc. 66.48, © VG Bild-Kunst, Bonn 2013, Photo: © 2000 Whitney Museum of American Art, New York. Photograph by Steven Sloman.)
Richard Artschwager (1923-2013) wurde in Washington, D.C., als Kind eines deutschstämmigen Vaters und einer russischen Mutter, die ein Kunststudium absolviert hatte, geboren. Im Alter von acht Jahren verbrachte er mit seiner Mutter ein Jahr in München, als sie an der dortigen Akademie studierte. Mitte der 1930er-Jahre zog die Familie nach Las Cruces, New Mexico. 1941 trat Artschwager in die Cornell University ein, um Biologie, Chemie und Mathematik zu studieren. 1944 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen, der ihn erneut nach Deutschland und Österreich führte; 1947 kehrte er in die USA zurück und vollendete ein Jahr später sein Studium. Zusätzliche Erfahrung als Tischler begründete seinen späteren Ruf eines „philosophierenden Schreiners“ mit.
Artschwagers Kunst steht Pop-Art, Minimalismus und Konzeptualismus nahe, ist jedoch keine dieser Kategorien zuzuordnen, sondern verbindet Elemente von allen dreien. Ein frühes Beispiel für Artschwagers formales Interesse an Malerei und Plastik sowie seine konzisen und brillanten Reduktionen ist das 1961 entstandene „Portrait Zero“, das als seine erste Arbeit die Bildebene in den physischen Raum überführt, den sonst eine Skulptur einnimmt. Als Quelle der Inspiration führt Artschwager eine Fernsehsendung für Kinder an, die ein Polizist moderierte: „Er erzählte von seinem Sohn, der seine Zeit im Garten verbrachte und dort Bretter zusammennagelte. Irgendwelche Bretter, die er einfach zusammennagelte. Wegen dieses unerklärlichen antisozialen Verhaltens beschloss der Vater voller Zorn und Kummer, seinen Sohn nicht ins Sommerferienlager fahren zu lassen. Ich hatte zufällig einen Haufen 6 mm dickes Sperrholz herumliegen. Ich nagelte einen Sperrholzstapel zusammen, ungefähr mannshoch, der rund 180 kg wog und an einer Kette von der Decke hing.“
Als Artschwager 1949 nach New York zog, hielt er sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs über Wasser, unter anderem als Babyfotograf. Diese Erfahrung verwertete er später in seiner Malerei: Sein Gemälde „Baby“ (1962) malte er auf Celotex, ein kommerzielles Material für Deckenplatten, das zu einem seiner formalen Signets wurde. Die unregelmäßige Oberfläche der Celotex-Platten leistet dem Malfluss Widerstand; so erzielte Artschwager eine Malerei mit einer offenen, bewegten Oberfläche ohne gestischen Ausdruck, ein Bestreben das er mit anderen Malern der frühen 1960er-Jahre teilte. Dabei ist das Motiv des Gemäldes von Nahem schwerer zu erkennen als aus der Ferne. Diese Technik benutzte Artschwager während seiner gesamten Karriere. Ein wichtiges Werkbeispiel ist die „Destruction“-Serie (1972). Darin stellt er auf der Grundlage von Zeitungsausschnitten den Abriss des Traymore Hotels, eines Ressorts in Atlantic City in New Jersey dar. Artschwager zeigt das Ereignis in einer Art kinematografischen Bildfolge. Er versucht damit den raschen Verfall von Aktualität täglicher Nachrichten zu dehnen. Gleichzeitig verfremdet er das Sehen in eine spannende Erfahrung, vergleichbar der Erwartung der tatsächlichen Implosion eines Gebäudes.
1967 nahm Artschwager eine Lehrtätigkeit an der University of California in Davis auf. Dort entwickelt er das Konzept der „blps“ (blip): einen länglichen Punkt. Der blp war eine radikale Erfindung: Für sich selbst genommen völlig bedeutungslos, wurde er erst im Zusammenhang von anderen Dingen sichtbar. Artschwager reproduzierte sie in verschiedenen Größen und stellte sie in viele öffentliche Zusammenhänge. Die ursprünglichen blps waren flache Holzscheiben. Doch bald entdeckte er ein anderes Material, gummiertes Haar, mit dessen Hilfe er die Kanten unschärfer gestalten konnte und die Art des Sehens, zu der ein blp anleitete, in der Wirkung noch steigerte.
Der blp animierte Artschwager dazu, den Ausstellungsraum auch anderweitig mit Interpunktionen zu versehen: mit skulpturalen Reliefs in Form von Ausrufe- und Fragezeichen, „Exclamation Point“ (1966) und „Untitled (Quotation Marks)“ (1980). Sie erscheinen als zum Teil mannshohe, witzige Formen – stumm und losgelöst von dem dramatischen Gefühl oder Laut, den sie in einem Text implizieren würden. Das Ausrufezeichen im Titel der Ausstellung zollt diesem Teil von Artschwagers Werk Tribut.
Mitte der 1970er-Jahre konzentrierte sich Artschwager auf die vertraute Tätigkeit des Zeichnens. In seinen eigenen Skizzenbüchern entdeckte er die sechs Dinge, von denen er fortan besessen war: Bis 1980 hießen die Protagonisten des Bild/Raum-Dramas seiner Zeichnungen und Drucke „Tür“, „Fenster“, „Tisch“, „Korb“, „Spiegel“ und „Teppich“. Er zeichnete diese sechs Gegenstände in immer wieder anderen Kombinationen, „so wie man Klavier spielt; man könnte wahrscheinlich sagen, dass es eine Art Übung für eine Fuge war“ (Richard Artschwager).
Wegen seiner Hässlichkeit verkörperte Resopal (Formica) – ein industriell gefertigtes Material zur Beschichtung von Möbeln und Fußböden – für ihn „das Grauen der Epoche“, und er verwendete es genau deswegen. Die glatte Oberfläche von Resopal kann jede gewünschte materielle Erscheinung annehmen und wehrt gleichzeitig jede Materialität ab. „Description of Table“ (1964), ein Kubus aus Melaninlaminat auf Sperrholz, erscheint mit seinen schwarzen, weißen und braun gemaserten Bereichen zunächst als Tisch mit vier Beinen, auf dem ein weißes Tischtuch liegt; das Objekt ist indes als Tisch nicht zu verwenden. Die schwarzen Bereiche geben den leeren Raum „unter“ einem Tisch vor, den es jedoch nicht gibt. Mit solchen „nutzlosen Gegenständen“ nimmt Artschwager unsere meist unscharfe Wahrnehmung der Welt ins Visier; er zwingt den Betrachter, seine Umgebung nicht nur visuell wahrzunehmen, sondern ihr auch körperlich zu begegnen. Dies trifft auch für spätere Resopalarbeiten zu wie die Serie der „Splatter Pieces“. Diese Skulpturen stellen einen Stuhl dar, der mit voller Kraft scheinbar in eine Zimmerecke geschleudert wurde und dort wie in einem Comic flachgedrückt und auseinandergespreizt an der Wand klebt.
In den frühen 2000er-Jahren wandte sich Artschwager wieder verstärkt der Malerei zu. In diesen Bildern stellte er Überlegungen über die Sterblichkeit an, doch gestattete er sich nun, die Kompositionen mit Farbe zu überschwemmen und bunte Resopalstücke einzuschließen. Seit den frühen 1970er-Jahren war Farbe zwar gelegentlich durch sein Werk gegeistert – etwa in Form einer goldenen Kugel, die in „Bowl of Peaches on Glass Table“ (1973) einen Pfirsich darstellt und in „Rights of Man“ (1991) einen Eidotter auf einem Teller. Jetzt ging er mit Farbe nicht länger zaghaft um. In Gemälden wie „Light Bulbs“ (2007) überflutet Farbe den Raum. Artschwager fixiert nun den unbekannten Weg, der vor ihm liegt. „Macadam“ (2008) zeigt eine breite Straße, die über den Horizont führt; „In the Driver’s Seat“ (2008) steuert ein Mann schwerelos gen Zukunft.
Darüber hinaus griff er erneut Motive vom Beginn seiner Karriere auf, wie in „Table (Somewhat)“ (2007) und vor allem in den „Piano“-Skulpturen (2012). Darin variiert Artschwager, selbst ein ausgezeichneter Klavierspieler, das Motiv mit signifikanten Merkmalen der Formreduzierung und den bekannten Oberflächeneigenschaften des Resopal. Wie bei „Description of Table“ oder „Splatter Chair“ handelt es sich um ‚platonische‘ Klaviere, von denen nur die Vorstellung des Objekts wiedergegeben ist.
Mit ihren filzigen Oberflächen, ihrem unbeholfen wirkenden Duktus, dem übertriebenen Maßstab und den nicht harmonisch abgestimmten Farben sind die späten Gemälde dazu angetan, beim Betrachter ein Unbehagen und Gefühl der Fremdheit auszulösen, das der Betrachter nicht assimilieren kann. Was Artschwager jedweder anderen Form von Kunst bescheinigt, trifft somit gerade auf sein eigenes Werk kaum zu: „Alle Kunst verkommt …, weil ihre Elemente, ihr Selbst, allmählich okay werden, vertraut werden.“ Artschwagers letzte Werke werden vielleicht nie angenehm anzuschauen sein und bleiben vielleicht auf immer „nicht okay“.
Die Ausstellung wurde vom Whitney Museum of American Art, New York, in Zusammenarbeit mit der Yale University Art Gallery, New Haven, organisiert. Die Präsentation in München ist organisiert in Zusammenarbeit mit Haus der Kunst.
Der Katalog mit Essays von Jennifer R. Gross, Cathleen Chaffee, Adam D. Weinberg und Ingrid Schaffner ist bei Yale University Press erschienen, 244 Seiten, 59,80 Euro, in Englisch.
Besonderer Dank gilt der Dr. Karl Wamsler Foundation sowie Gagosian Gallery, New York, und Sprüth Magers Berlin London für die zusätzliche Unterstützung der Ausstellung in München.
Pressekontakt Haus der Kunsts Dr. Elena Heitsch

Tags: