Russland: LIMONOW explosiv

Russland: LIMONOW explosiv

Limonow
2012 Matthes-Seitz Berlin 
Emmanuel Carrère

LIMONOW

414 S., 24,90 €, 33,90 sFr, gebunden mit Schutzumschlag. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. ISBN: 978-3-88221-995-1. Auch als e-Book (ISBN: 978-388221-939-5, 14.99 €, 19.99 sFr). Originalversion 2011 ausgezeichnet mit dem Prix Renaudot und dem Prix de la langue française)
LIMONOW, die explosive Symbiose aus Zitronensäure und Handgranate, um die es in diesem Wahnsinnsbuch geht, ist der schillernde russische Schriftsteller Eduard Weniamowitsch Sawenko. Unstillbarer Freiheitsdrang gepaart mit politischen Ambitionen und getragen von Mut ohne Ende, treibt den 1943 in der Ukraine Geborenen politisch von ganz Links nach scharf Rechts und geografisch von Moskau über New York (1974) und Paris 1994 zurück nach Moskau. Für gut Befundenes wird vehement ausgelebt und verteidigt. Nietzsches: „Das einzige was zählt ist der Lebenswille“ scheint bei LIMONOW Gebot zu sein. Er selbst nennt sein Leben in der Summe: „Ein Scheißleben“, wobei diese Aussage einer gewissen Koketterie vermutlich nicht entbehrt.
Ich habe mir in vielen Jahren, via Nachrichten, Literatur, zwei Besuchen in Moskau und Umgebung nebst Gesprächen mit russischen Bürgern, ein gepflegtes Halbwissen über den flächenmäßig größten Staat der Erde angeeignet. Die Kamikazetouren des Fahrers, der uns 2008 chauffierte, habe ich ebenso krass in Erinnerung, wie unzählige Plastikgebinde für bei Verkehrsunfällen Verstorbene am Wegesrand. Exzessiver Alkoholkonsum war immer großes Thema. Ebenso unvergesslich sind mir zwei, mit MP bewaffnete, Wächter vor dem einfachen Landhäuschen unserer Gastgeber und mein Flugnachbar, Vorstand eines großen, in Moskau operierenden Unternehmens, der mir glaubhaft versicherte, dass ein Etat für Schmiergelder automatisch in jeder Kalkulation inkludiert ist…
Emmanuel Carrères Buch hat mir eine hervorragende Zusammenfassung über die russische Seele in die Hand gegeben. Wenngleich ich auch hier Abstriche für das subjektive Empfinden des Autors mache. So bleibt Länderkunde jedenfalls hängen und Dank der hervorragenden Erzählart des französischen Autors, die von Claudia Hamm bestens ins Deutsche herübergerettet wurde, habe ich das Buch nur ungern weggelegt. Trotzdem: irgendwie hat sich mir bei der Lektüre immer wieder der Verdacht aufgedrängt, dass der Mensch an sich vielleicht doch nur ein Irrläufer der (R)Evolution ist… PS: Kompliment an die Cover-Gestalter! RS/PTM
 
Pressetext: Das Porträt eines exzentrischen Abenteurers – zugleich ein Blick auf 50 Jahre russische Geschichte
Mit ›Limonow‹ ist Emmanuel Carrère der vielfach preisgekrönte Sensationserfolg des französischen Buchherbstes 2011 gelungen. Seine Romanfigur Eduard Limonow ist dabei keine fiktive Person sondern vielmehr quicklebendig – Limonow gehört heute zu den wichtigsten Protagonisten der Oppositionsbewegung in Russland. Spätestens seit der Gründung der Nationalbolschewistischen Partei ist er zugleich eine der umstrittensten und widersprüchlichsten Figuren Russlands. Seine politische Haltung oszilliert zwischen extrem rechts und extrem links – immer in Opposition zum Establishment und immer auch als ästhetische Geste einer Gegenkultur.
Emmanuel Carrère verfolgt in seiner genresprengenden Romanbiografie Limonows Stationen zwischen Ost und West, Kommunismus und Kapitalismus, und spannt den Bogen von sehr persönlichen Details zu weltgeschichtlichen Ereignissen – all das in einem atemraubenden Erzähltempo. Dabei kann er kann sich der Verführungskraft seines unberechenbaren Protagonisten nicht entziehen, steht aber seinem zweifelhaften Helden mit subtiler Ironie nicht immer empathisch gegenüber, reibt sich an dessen Maximen und spiegelt sein eigenes bürgerliches Leben in dem seines Protagonisten. Er zeichnet nicht nur Limonows Leben und Wirken nach, sondern auch – mit all seinen Widersprüchen und Brüchen – den Versuch einer Annäherung an das heutige Russland.
Emmanuel Carrère, geboren 1957 als Sohn der französischen Historikerin Hélène Carrère d’Encausse, lebt als Schriftsteller, Regisseur, Produzent und Drehbuchautor in Paris. 2010 war Carrère, dessen Dokumentarfilm ›Rétour à Kotelnitch‹ 2003 auf dem Filmfest Venedig gefeiert wurde, Jurymitglied bei den Filmfestspielen in Cannes. Für ›Limonow‹ wurde er 2011 mit dem Prix Renaudot und dem Prix de la langue française ausgezeichnet. Weitere Bücher des Autors sind bei Matthes & Seitz Berlin in Vorbereitung.
Claudia Hamm, geboren 1969, ist Theaterregisseurin, Autorin und Übersetzerin und lebt in Berlin. Zuletzt übersetzte sie Édouard Levé, ›Selbstmord‹.

Tags: