1.2.-12.5.13 Kendell Geers 1988-2012

1.2.-12.5.13 Kendell Geers 1988-2012

HDK_Kendell_Geers_Fuckface_Skull_version01.02.-12.05.13 Kendell Geers 1988-2012. Haus der Kunst
Die künstlerische Arbeit von Kendell Geers umfasst die unterschiedlichsten Medien und Gattungen wie Installation, Skulptur, Zeichnung, Video, Performance und Fotografie. Die Ausstellung vollzieht die Veränderungen und die Entwicklung seiner künstlerischen Sprache in zwei je zwölf Jahre umfassenden Werkphasen nach: von 1988 bis 2000 und von 2000 bis heute. Über seine erste, politische Phase gibt die Ausstellung zum ersten Mal in Europa einen Überblick. Kendell Geers wuchs während der Apartheid als Kind einer weißen südafrikanischen Arbeiterfamilie auf, die den Zeugen Jehovas angehörte. Bereits in jungen Jahren wurde er mit Themen wie Glaube, Politik und Ideologie konfrontiert. Mit fünfzehn Jahren verließ er sein Elternhaus und schloss sich der militanten Anti-Apartheid-Bewegung an. Aus diesen prägenden Erfahrungen als Frontkämpfer gegen die Apartheid entwickelte Geers ein künstlerisches Werk, in dem sich das Private mit dem Politischen, das Poetische mit dem Elenden, und Gewalt mit erotischer Spannung verbindet.

In seinen Arbeiten dieser Periode setzte er sich mit den inneren Widersprüchen des Regimes der Apartheid auseinander und stellte jegliche Form von Macht in Frage. 1993-94, vor den ersten demokratischen Wahlen in Südafrika, trat er allen großen Parteien, von der extremistischen Rechten bis zur kommunistischen Partei, bei. Während dieser Zeit sozial-politischer Umwandlung kam es zu vielen gewalttätigen Konflikten. Am 19. Juli 1993, der Tag, an dem Geers dem African National Congress (ANC) und der Inkatha Freedom Party (IFP) beitrat, wurden sieben Mitglieder der IFP von bewaffneten ANC-Parteigängern erschossen. Indem der Künstler das gesamte politische Spektrum gleichermaßen unterstützte, prangerte er die Fetischisierung der Parteipolitik an. Die entstandene Performancearbeit „Untitled [ANC, AVF, AWB, CP, DP, IFP, NP, PAC, SACP]“ war zu der Zeit so umstritten, dass der Künstler gezwungen war unterzutauchen.
Geers‘ visuelles Vokabular ist von Provokation, Humor und Gewalt geprägt. Die Verwendung gefundener Objekte wie Stacheldraht, Neonleuchten und Glasscherben zeigt, dass das Readymade in seiner Arbeit eine zentrale Rolle spielt. Geers wählt dabei den Alltagsgegenstand nach dessen symbolischem Gehalt und weniger nach ästhetischen Gesichtspunkten aus. Für ihn ist ein Objekt mehr als die Summe seiner Teile: Es ist die Verkörperung einer Ideologie und ein Porträt sowohl seines Herstellers als auch seines Konsumenten. So ist etwa seine einzige Arbeit, die den Titel „Self Portrait“ trägt, der abgebrochene Hals einer Heineken-Bierflasche. Ebenso wie Geers‘ burische Vorfahren war Heineken-Bier nach Südafrika importiert worden. Für den Künstler repräsentiert die Biermarke die Werte und die Moral der Buren, die Apartheid als legitimes System ansahen. In Ablehnung seiner Vorfahren und ihrer totalitären Ideologien bricht er den Hals der Flasche ab, um sich selbst zu befreien. Sein „Self Portrait“ (1995) wird so zu einem Symbol der Emanzipation von kolonialer Herrschaft.
Auch in Geers‘ persönlichem Archiv spielt das Readymade eine wichtige Rolle. Seine Sammlung von Zeitungsartikeln, Hollywood-Filmen, politischen Plakaten, Fotografien und Briefen dient ihm als Inspirationsquelle und bildet zugleich ein Kontinuum in seinem künstlerischen Schaffen. Es verdeutlicht so die literarischen und sprachlichen Quellen des Künstlers. Zu diesen Quellen zählt etwa „Country of My Skull“ (1988) von Antjie Krog, die über die Ergebnisse der südafrikanischen „Truth and Reconciliation Commission“ (Wahrheits- und Versöhnungskommission) schreibt. Das Buch hat Geers zur Arbeit „Country of My Skull“ (2010) inspiriert, eine Kannibalen-Trophäe aus Neukaledonien, die Geers‘ Identität, sein Land und seine gemischte Herkunft symbolisiert. Politische Quellen sind ebenso Teil des Archivs: Das Bild des toten Hecter Pietersen, das Sam Nzima 1976 bei den gewalttätigen Ausschreitungen während des Aufstands in Soweto aufgenommen hat, wurde zu einer der berühmtesten Darstellungen im Kampfes gegen Apartheid. Die Fotografie ist verbunden mit Geers‘ Arbeit „Untitled (1976)“, einem ausrangierten Obduktionsregister mit Hecter Pietersens Namen. Auch persönliche Dokumente sind im Archiv enthalten. Ein auf 1988 datierter Totenschein bestätigt den Tod des Großvaters des Künstlers durch „Ersticken – Selbstmord“. Als Kunstwerk kann er als Verweis auf das Ende der patriarchalischen Machtfolge verstanden werden.
Geers stellt sein eigenes Leben mit allen Details und persönlichen Erfahrungen, seine Erinnerungen, Ängste, Begierden sowie mythologische Ideen ins Zentrum seiner Kunst; er begreift sich als „EuroAnimist“, der die alten animistischen Traditionen Afrikas mit der Sprache der europäischen Avantgarde zusammenführt. Im Jahr 2000, im für ihn symbolischen Alter von 33 Jahren, beschloss er, ein Jahr lang nicht künstlerisch zu arbeiten und sich stattdessen auf eine spirituelle Reise zu begeben, die ihn zu einer neuen Vision von Kunst führen sollte. Dieses Jahr markiert einen Wendepunkt in seiner Kunstauffassung: Durch seinen nun eher poetischen Ansatz rückt er universelle Themen wie Spiritualität und Sterblichkeit in den Mittelpunkt. Die Arbeit „Postpunkpaganpop“ (2008) lädt den Besucher ein, sich seinen Weg über einen verspiegelten Boden durch ein Labyrinth aus Stacheldraht zu suchen. Was zuvor als militärische Abgrenzungstechnik diente, wird zur Kulisse für die Suche nach einer „mystischen Wahrheit“: Die Spiegel reflektieren alles, was oben ist, als unten. So wird die spirituelle Sphäre mit der irdischen verbunden, die äußere, materielle mit der inneren, metaphysischen Welt.
Diese mystischen und mythologischen Prinzipien sind auch zentral für Geers‘ Selbstwahrnehmung. Sein Vorbild ist die archetypische Figur des „Trickster“ (Gauner), der sich selbst und sein Werk ständig verwandelt und deshalb nie greifbar ist. Anlässlich der Biennale von Venedig 1993 verlegte Geers sein eigenes Geburtsdatum auf „Mai 1968“, den Beginn des Studenten- und Arbeiteraufstandes („Title Withheld [Kendell Geers]“). Sein Curriculum Vitae („T.W. [C.V.]“) beginnt am 6. April 1652, als Jan Van Riebeeck am Kap der Guten Hoffnung landete und es zur niederländischen Kolonie erklärte. Weitere in den Lebenslauf aufgenommene Ereignisse sind der Untergang der Titanic 1912, wissenschaftliche Entwicklungen wie die Entdeckung der Relativitätstheorie 1905, politische Ereignisse wie Idi Amins Militärcoup in Uganda 1971 oder die Wahl George W. Bushs zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 2000. Die Daten in Geers‘ Lebenslauf sind stets im Wandel begriffen. Er fügt Ereignisse hinzu oder streicht sie, entsprechend den Veränderungen seiner Identität und Selbstwahrnehmung. Geers‘ Lebenslauf wird so selbst zu einem Archiv, das Geschichte als einen subjektiven Prozess reflektiert: Seine eigene Identität versteht er – ebenso wie seine Readymades – als ein Kompositum von Ereignissen, die er entweder selbst erlebt hat oder durch die Wahrnehmung anderer „erinnert“.
Die Ausstellung wird von Clive Kellner, Curator-at-large der Gordon Schachat Collection und ehemaliger Direktor der Johannesburg Art Gallery, kuratiert.
Der Katalog erscheint im Prestel Verlag, mit Beiträgen von Nicolas Bourriaud, Laurent Deveze, Clive Kellner, Kendell Geers, Katerina Gregos, Anitra Nettleton und einem Gespräch zwischen Okwui Enwezor, Kendell Geers und William Kentridge; 240 Seiten, Englisch, ISBN 978-3-7913-5300-5, Buchhandelspreis 49,95 €.
Pressekontakt:
 Elena Heitsch und Jacqueline Falk. Stiftung Haus der Kunst München, gemeinnützige Betriebsgesellschaft mbH

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