Im Sarkophag von Tschernobyl

Im Sarkophag von Tschernobyl

2011 Styria Premium
Anatoly N. Tkachuk
Ich war im Sarkophag von

TSCHERNOBYL

320 S., 24,95 €, 16,5 x 24 cm. ISBN: 978-3-222-13337-4. Leseprobe
Buchbesprechung: KGB-Offizier Anatoly N. Tkachuk führt den Leser als Andrey Pravdin im Romansstil durch seine persönlichen Erfahrungen mit US/UDSSR-Spionage, Atomwaffen, Atomkraftwerk Tschernobyl bis dem Leser kaum noch etwas anderes übrig bleibt als das Fazit zu ziehen, dass Atomwaffen und Atomkraftwerke prädestiniert dazu sind, Mensch und Natur zu zerstören. Und dass von der Vernunft des Menschen alles abhängt.
Als Tschernobyl-Liquidator im inneren Sicherheitsbereich (eingesetzt, um nach dem Supergau die Radioaktivität zu liquidieren/Ironie des Schicksals: viele Liquidatoren wurden durch die Radioaktivität liquidiert) war der Autor im Zentrum der 30km-Todeszone um Tschernobyl und die entmenschte Stadt Pripyat die 1986 auf einen Schlag ihre ganzen Einwohner verlor. Über allem lag ein tödliches Netz der Verschwiegenheit. Man liest z.B. von einem jungen Mann, der die Geliebte besuchen will, ohne die Tücken des verstrahlten Umfelds zu kennen, in dem sie als Wissenschaftlerin arbeitet. Wie er innerhalb kürzester Zeit an der Strahlenüberdosis stirbt, weil dieser Tod auf leisen Sohlen daherkommt, man ihn weder sieht noch hört noch riecht. Wie das im Liebesakt der Verzweiflung entgegen alle Vernunft gezeugte Kind später an Leukämie dahinsiecht… Nichts an der Beschreibung ist sensationslüsternd. Einfach nur sachlich festgehalten.
Von Ehre und der Überzeugung getrieben, eventuell die Welt retten zu können, initiierte Tkachuk alias Pravdin kurz nach dem Bau des ersten Sarkophags über Block 4 von Tschernobyl eine Mission ins Innere der strahlenden Nekropole. Er wollte durch Probenentnahmen herausfinden, welche chemischen Verbindungen sich dort, wo tonnenweise unterschiedliche Dämmstoffe mit unbekannten Reaktionsmustern hineingeschüttet worden waren, zusammenbrauten. Wie ein Damoklesschwert lag das „China Syndrom“ in der Luft, bei dem davon ausgegangen wird, dass sich der geschmolzene Reaktorkern des Kraftwerks in die Erdkruste einbrennen und dort immer tiefer in die Erde eindringen könnte – z.B. bis China. Auf alle Fälle könnte so eine Entwicklung das Grundwasser in ungeahntem Umfang verseuchen. Dabei war ihm klar, dass es sich bei dem Unternehmen um eine Kamikaze-Aktion für ihn selbst und die drei Mitstreiter handelt… Im Kapitel 7 schreibt er: „Man muss kein Spezialist für Atomphysik sein, um zu verstehen, dass jeder, der für diesen Gang ins Innere des Reaktors ausgewählt wurde, in den Tod geschickt würde. Auch Andrey Pravdin wusste das. Ihm war klar, dass alles, was hier passierte, durch ihn ausgelöst worden war. Und dass er für jedes verlorene Leben geradestehen musste… vor seinem Gewissen.“
Der Ingenieur starb nach 10 Minuten, der Physiker (Pravdins Freund) nach zwei Tagen, der General vor kurzem, nach einem fast 25jährigen Siechtum. Pravdin hat bis heute überlebt, wenngleich körperlich gezeichnet. Vielleicht ist dieses Buch nicht nur ein Aufruf an die Menschheit, sondern auch (s)ein ganz persönlicher Hilferuf, um dieses Gewissen des Überlebenden zu erleichtern? Auf jeden Fall ist es ein eindringlicher Schrei, der betroffen macht und sehr lesenswert ist.
Ich erinnere mich sehr gut and den Tag in 1986, als die Tschernobyl-Meldung über die unheilvolle Wolke aus Osten, durch unseren kleinen Ort am Starnberger See geisterte. In Bernried wurde gerade der Maibaum aufgestellt: ein heiliger Akt in einer heilen Welt. Wir, drei Freundinnen mit Kleinkindern, beschlossen spontan, unseren Urlaub vorzuverlegen und in Mallorca der Wolke zu entkommen. Seitdem lebt in den Hinterköpfen vieler die ich kenne: Vorsicht Tschernobyl! Wenngleich unsere Hysterie der weit Entfernten peinlich ist im Vergleich zur Situation der Menschen rund um Tschernobyl, wo 170 Orte von der Landkarte verschwanden, wo die meisten dazu verdammt waren in der Nähe zu bleiben, zu sterben, dahinzusiechen, kranke Kinder auf die Welt zu bringen. Außerdem waren sie viel zu spät und falsch informiert worden. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass man zumindest in ganz Europa ahnte, dass da etwas geschehen ist, das der Welt nicht gut tut. Und wenn Tkachuk im 6. Kapitel schreibt: „… jeder, der hier war, konnte sein Leben leicht einteilen in die Zeit vor Tschernobyl und die danach.“, dann gilt das in gewisser Weise auch für den Rest Europas oder gar der Welt.
Jeder, der sich über die Gefahren von Atomkraftwerken informieren wollte, hatte schon nach Sellafield, Harrsiburg und Tschernobyl ausreichend Gelegenheit dazu. Wer nach Fukushima immer noch für die Stromerzeugung durch Atomkraftwerke plädiert ist entweder informationsresistent, gleichgültig oder ein unverbesserlicher Zyniker. Dieses Buch könnte der gedankliche Einstieg in den Ausstieg sein. Denn klar ist eins: Das Feuer wird weiterbrennen – so der letzte Satz in Tkachuks Buch.
Rena Sutor

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